Yukio Mishima - und die Leere im moralischen Vakuum
„Der Goldene Pavillon“ ist die chirurgische Sezierung einer obsessiven Psychologie. Entdecken Sie, wie die Anziehungskraft absoluter Schönheit in den ultimativen Zerstörungsakt umschlägt.
Zusammenfassung: „Der Goldene Pavillon“ bleibt ein literarisches Monument, das die Grenzen zwischen Ästhetik und Extremismus auf beunruhigende Weise verwischt. Mishima schafft es, die psychologische Zerrissenheit des Novizen Mizoguchi als Resonanzraum für eine radikale Ideologie zu nutzen: die Verklärung des Lebens zum Kunstwerk und die Romantisierung des Scheiterns als ultimative ästhetische Geste. Der Roman ist damit nicht nur ein Meisterwerk der psychologischen Beobachtung, sondern ein zeitloser Kommentar zur Verführungskraft absoluter Ideale in einer Gesellschaft, die ihren Halt verloren hat.
Der japanische Schriftsteller Yukio Mishima (1925–1970) war eine Verkörperung des Ästheten und Aktivisten, eine Figur, die das späte 20. Jahrhundert ebenso faszinierte wie schockierte. Doch um die radikale Kraft seines Romans „Der Goldene Pavillon“ (Kinkaku-ji, 1956) auch für den westlichen Leser verständlich zu machen, könnte es hilfreich sein, ihn im Kontext eines älteren, europäischen Prototyps zu sehen: des italienischen Dichters und militanten Nationalisten Gabriele D’Annunzio (1863–1938).
Beide Männer teilten die Überzeugung, dass das Leben selbst ein „Kunstwerk“ sein müsse. D’Annunzio kultivierte einen extravaganten, skandalösen Lebensstil des Dekadentismus und eine Körper- und Heldenverehrung, die er schließlich in die Propaganda der Tat umsetzte, gipfelnd in der militärischen Besetzung von Fiume (1919).
Mishima übernahm diese Haltung. Auch er setzte auf die bewusste Selbstinszenierung – vom Bodybuilding bis zur Uniform seiner privaten Miliz Tatenokai. Für beide war das Politische die Fortsetzung der Ästhetik mit anderen Mitteln.
Die Ästhetik des Todes und des Scheiterns
Diese gemeinsame Ideologie ein eine zentrale Obsession, die auch Mishimas Roman antreibt: die Romantisierung des Todes und des Scheiterns als ultimative ästhetische Geste.
Während D’Annunzio den heroischen Tod idealisierte, ihn aber selbst durch natürliches Sterben verfehlte, führte Mishima diese Logik bis zur bitteren Konsequenz. Sein ritueller Selbstmord (Seppuku) nach einem gescheiterten Putschversuch im Jahr 1970 war die finale “Propaganda der Tat”, die vollendete ästhetisch-politische Selbstinszenierung. „Der Goldene Pavillon“ ist die literarische Auseinandersetzung mit genau dieser obsessiven Psychologie.
Mishima wählt für diese Auseinandersetzung die Perspektive des jungen Novizen Mizoguchi, dessen innere Zerrissenheit zum Resonanzraum einer radikalen Ästhetik wird. Von Stottern und Schüchternheit gezeichnet, entwickelt Mizoguchi eine fast krankhafte Faszination für die Schönheit des Goldenen Pavillons – ein Bauwerk, das in der Realität ebenso wie im Roman als Inbegriff vollendeter, unerreichbarer Harmonie gilt. Was Mishima daraus formt, ist ein literarisches Labor, in dem sich Schönheit in Zerstörung verkehrt und Bewunderung in Hass umschlägt.
“Dort war die Schönheit, und hier war ich. Und so würde es bleiben, solange die Welt bestand.”
Paradoxie der Schönheit: Bewahren durch Vernichten
Die ästhetische und moralische Spannung des Romans entsteht dabei aus einer paradoxen Sehnsucht: Mizoguchi will das Schöne nicht bewahren, sondern vernichten, um es damit – zumindest in seiner eigenen Logik – zu retten. Mishima gelingt es, diese Obsession mit einer analytischen Schärfe darzustellen, die zugleich faszinierend und verstörend wirkt. Die Leere, die Mizoguchi in sich trägt, verbindet sich mit der absoluten Idee der Schönheit zu einem moralischen Vakuum, in dem nur noch die destruktive Tat als Akt äußerster Konsequenz verbleibt.
“Meine Tat hatte sich wie Goldstaub, dessen Glitzern mir ständig in die Augen stach, in meinem Gedächtnis abgelagert. Das Glitzern des Bösen.”
Der Roman zeichnet damit nicht nur das psychologische Porträt eines Einzelnen, sondern auch eine umfassende Kritik an einer Gesellschaft, die in ihrer rituellen und ästhetischen Erstarrung erst die Bedingungen für solche Extremismen schafft. Der Goldene Pavillon ist nicht bloß ein Tempel – er ist Symbol und Spiegel, Verheißung und Falle. Mishima seziert dieses Symbol mit chirurgischer Präzision und zwingt den Leser dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie weit die Verführungskraft absoluter Ideale reichen darf.
Der Kaiser und der Goldene Pavillon
Stilistisch brilliert Mishima durch eine Balance aus lyrischer Erzählung und präziser psychologischer Beobachtung. Die Bildsprache ist von einer Intensität, die den Leser unweigerlich in den Bann zieht, während der erzählerische Rhythmus immer wieder in Momente der Beklemmung kippt. In dieser Mischung liegt die eigentliche Stärke des Romans: Er ist nicht einfach ein psychologisches Drama, sondern ein philosophischer Kommentar zur Macht destruktiver Ideale.
Wie D’Annunzio in den chaotischen Jahren nach dem 1. Weltkrieg, steht Mishima am Wendepunkt des 2. Weltkrieges. Der rasante Aufstieg Japans fand ein jähes Ende, doch anders als seinerzeit bei den Hohenzollern beließen die Sieger Kaiser Hirohito im Amt – wenn auch Status und Macht wesentlich beschnitten wurde. Eine gängige Interpretation des Romans vergleicht dabei den Goldenen Pavillon mit Kaiser Hirohito. Im Roman von Mishima steht der Pavillon sinnbildlich für die Schönheit, Tradition und den Stolz Japans, ähnlich wie der Kaiser selbst als Symbol der nationalen Identität und kulturellen Kontinuität gilt.
“Am Tag, als der Krieg endete, vernahm ich selbst im Schrillen der Zikaden in den umliegenden Wäldern den Fluch der Ewigkeit.”
Nach der japanischen Kapitulation 1945 war Kaiser Hirohitos Rolle stark erschüttert, und die Nation fühlte sich durch die Niederlage und die nachfolgende amerikanische Besatzung gedemütigt. Mishima verarbeitet im Roman die Erfahrungen und den inneren Konflikt eines jungen Mannes, der den Goldenen Pavillon als Inbegriff des Unerreichbaren, der unberührten Perfektion sieht – ähnlich wie es viele Menschen mit dem Kaiser auf einer symbolischen Ebene tun. Die Schönheit des Pavillons wird zur Obsession, aber zugleich zum Zeichen für eine Welt, die der Protagonist als unerreichbar und ihm fremd empfindet.
Der Brand des Pavillons steht allegorisch für den Bruch mit der Vergangenheit und die Selbstreinigung nach der Niederlage. Der junge Protagonist zerstört das Bauwerk, weil er sich von dessen Schönheit und Idealisierung gefangen fühlt – ein Akt, der auf die innere Zerrissenheit und Suche nach Identität nach der Demütigung durch die Kapitulation verweist. In diesem Sinn spiegelt die Geschichte die Krise des japanischen Kaisers wider, dessen göttlicher Status durch die Kapitulation infrage gestellt wurde und der sich in einer veränderten, westlich geprägten Nachkriegsordnung neu behaupten muss.
Und das Böse?
Meiner Ansicht nach gibt es aber noch einen dritten Aspekt, der in den Rezensionen oft zu kurz kommt. Es ist die Frage nach dem Bösen, oder wie im Falle des Novizen Mizoguchi, das böse sein wollen. Schon bei der Beschreibung seiner Kindheit vergisst der Ich-Erzähler nicht zu betonen, wie sehr er an Gewaltfantasien gegenüber jenen Gefallen findet, die ihn mobbten oder auch nur missachteten.
“Wenn die Menschen auf dieser Welt sich in ihrem Leben und Werken dem Bösen hingaben, wollte ich so tief wie möglich in dieses Böse eintauchen.”
Mizoguchi ist der Geist, der immer böses will und wütend wird, wenn er keine Anerkennung dafür erfährt. Deutlich wird das in der Beziehung zum Abt des Klosters, gegen den der junge Novize einen schwer zu definierenden Hass empfindet. Doch statt gemaßregelt zu werden, breitet der Abt über die Taten seines jungen Schülers einen sprichwörtlichen Mantel des Schweigens. Was diesen umso mehr quält und eine Rache fürchten lässt, die vielleicht deshalb die schlimmste ihrer Art ist, weil man sie fürchtet und sie doch nicht kommt.
Selbst wenn er den Goldenen Pavillon anzündet ist Mizoguchi nicht an seinem Ziel das Böse zu sein angekommen. Er lässt in seiner Wut die Schönheit der Vergangenheit in Flammen aufgehen und ist dabei doch nicht mehr als jene von der Natur vorgesehenen Waldbrände, die den Wald von Unterholz befreien und zu neuem Wachstum anregen. Die Geschichte basiert auf realen Ereignissen. Der Goldene Pavillon wurde 1950 von einem buddhistischen Novizen angezündet, der an Schizophrenie litt. Und wie nach einem Waldbrand wuchs auch der Goldene Pavillon schon wenige Jahre wieder im alten Glanz in die Höhe. Der Kinkakuji-Tempel gehört noch heute zu den unverhandelbaren Must-see jedes Touristen in Kyoto.
Fazit
Am Ende bleibt „Der Goldene Pavillon“ ein Werk, das sich jeder einfachen Einordnung entzieht. Es ist ein Roman über Obsession, über Schönheit und Zerstörung, aber ebenso über die Abgründe eines Menschen, der in der Vollkommenheit nur die Vorstufe des Untergangs erkennen kann. Zugleich zeigt Mishima auf, wie nahe Schönheit und Gewalt, Ästhetik und Extremismus beieinanderliegen können.
Der Goldene Pavillon von Yukio Mishima - Kein&Aber Pocket - ISBN 978-3-0369-6157-6



