Wahrheit aus der Spritze: Kallocain – Karin Boyes vergessene Dystopie
Orwell und Huxley kennen Sie, aber „Kallocain“ ist die vergessene Dystopie, die schon 1940 die totale Kontrolle vorausahnte.
Zusammenfassung: ”Kallocain“ ist weit mehr als nur eine historische Fußnote der dystopischen Literatur. Karin Boyes Roman bietet eine beklemmend detaillierte und psychologisch tiefgründige Darstellung des Überwachungsstaates. Die Erfindung der Wahrheitsdroge Kallocain macht dabei den letzten privaten Gedanken zur Staatsangelegenheit.
Orwell’s 1984 ist in aller Munde, Huxley’s Schöne neue Welt vielen zumindest ein Begriff, und so mancher hat vielleicht schon von Jewgeni Samjatin’s Wir gehört. Na ja, wahrscheinlich nur Literaturbegeisterte oder Freunde des dystopischen Romans - falls es Dystoptie-Fans gibt.
Der 1940 erschienene Roman Kallocain, der schwedischen Autorin Karin Boye, dürfte noch unbekannter sein. Zu unrecht, wie man nach der Lektüre weiß.
Darum geht es in “Kallocain”
Karin Boye beschreibt in ihrem Roman die beklemmende Vision eines totalitären Weltstaates. Die Handlung wird aus der Perspektive des loyalen Wissenschaftlers Leo Kall erzählt, der in dieser von Überwachung und kollektiver Ideologie dominierten Gesellschaft lebt. Kall erfindet die nach ihm benannte Wahrheitsdroge Kallocain. Ein Serum, das Menschen dazu zwingt, ihre tiefsten, privatesten Gedanken und Gefühle preiszugeben. In einer Welt, in der die Lüge der letzte Schutz vor dem Staat geworden ist, zwingt Kallocain die Menschen immter die Wahrheit zu erzählen.
Zunächst ist der Chemiker Kall überzeugt, damit den “letzten Winkel” der Individualität für den Staat nutzbar zu machen, da nun auch gedankliche Abweichung als Verbrechen verfolgt werden kann. Durch die Anwendung von Kallocain und die damit verbundenen Enthüllungen – als er aus Eifersucht seine eigenen Frau Linda unter die Droge setzt – beginnt Kall jedoch, die totale Kontrolle des Staates und seine eigene Rolle als “Mitsoldat” in Frage zu stellen.
Es ist eine düstere Welt, die Boye zeichnet. Der Weltstaat, trotz seines Namens übrigens nicht der einzige verbliebene totalitäre Staat in dieser Zukunftsvision, pfercht seine Bürger in größtenteils unter der Erde liegenden Städten ein. Städte, die nach der Funktion ihrer Bewohner benannt sind - so spielt der Hauptteil der Handlung in Chemiestadt Nr. 4. Wer an die Oberfläche will, benötigt wie für so vieles andere eine Lizenz, ein vom Staat erteiltes Privileg, das jederzeit zurückgenommen werden kann.
Wie in dem acht Jahre später entstandenen Roman “1984” sind die Überwachungsinstrumente längst auch in den eigenen vier Wänden angekommen. Auch wenn das Prinzip eines bentham’schen Panopticon herrscht, nachdem niemand so genau weiß, wann die Polizei die installierten Abhöranlagen auch nutzt. Doch der Staat hat noch andere Mittel, seine Bürgre zum Beispiel. Denn auch wenn der allmächtige Staat Ehe und Familie noch nicht abgeschafft hat, sind Partner angehalten sich gegenseitig zu überwachen und Kinder kommen mit acht Jahren in Erziehungslager, dürfen aber an zwei Abenden zuhause bei ihren Eltern sein.
Stalin entsprach nicht der Wunschvorstellung eines jeden Intellektuellen
Karin Boye gehört zu jener Anzahl westeuropäischer Intellektueller, die zumindest zu großen Teilen nach einem Kontakt mit dem Stalinismus der Sowjetunion von ihrer allzu linken Weltanschauung kuriert wurden. Aber auch den Faschismus kannte die Schwedin aus eigenem Erleben. Und so kann man fragen, ob der Weltstaat nun den Kommunismus symbolisiert und der Universalstaat, mit dem der Weltstaat im Laufe der Handlung in einen Krieg gerät, den Fachismus - oder umgekehrt. Es liegt eine gewisse Austauschbarkeit der totalitären Systeme, die von heutigen linken natürlich abgestritten wird, die hier zutage tritt. Ob dem “Mitsoldat” im Weltstaat nun eher der kommunistische “Genosse” oder das nationalsozialistische “Volksgenosse” Pate stand - unwichtig.
Detailliert zeichnet Boye die inneren Strukturen des Weltstaates nach, der neben technischen Mitteln der Überwachung, vor allem auf sein eigenen Mitsoldaten (Bürger) setzt.
“Und glauben Sie ja nicht, dass ich von so einem zivilen Aberglauben ausgehe, dass der Staat für uns da sein soll, statt dass wir für den Staat da sein sollen, wie es sich in Wahrheit verhält.”
So sind die “Mitsoldaten” verpflichtet regelmäßig selbst Polizeidienst zu leisten, um etwa bei Propagandaveranstaltungen jene auszumachen, die es an der richtigen Begeisterung vermissen lassen. Wie sie ihre Mittäterschaft vor ihrem eigenen Selbst rechtfertigen, beschreibt die Autorin aus der Ich-Perspektive des Chemikers Leo Kall detailliert und lebensnah.
Doch als Leo Kall in seinem Labor Kallocain erfindet, wird alles anders.
Alkohol ist im Weltstaat längst verboten, auch wenn Kallocain darauf zu basieren scheint, dass ein oder zwei Gläser bekanntlich die Zunge lockern. Nur wird Kallocain in dem gleichnamigen Roman gespritzt und bringt die Menschen dazu freimütig die Wahrheit zu sagen. Was nicht unbedingt die beste Idee ist, lebt man unter einem Regime, in dem sich zu verstellen eine Überlebensfrage ist.
Und so kommt es, wie es kommen muss, der Staat beginnt sich in Form des Polizeichefs der Chemiestadt Nr. 4 für Kall und sein Kallocain zu interessieren. Das dieser nicht nur die Möglichkeiten für die Strafverfolgung sieht, sondern auch um seine eigene politische Agenda durchzudrücken, kann Kall egal sein. Obwohl langsam in ihm die Zweifel überhand nehmen, ob im Weltstaat wirklich alles Gold ist, was glänzt, profitiert er natürlich von seiner Erfindung. Dank seiner neuen Beziehungen kann er selbst seinen (vermeintlichen) Nebenbuhler vor Gericht bringen, der - mit Hilfe des Polizeichefs - nach einer Dosis Kallocain dann auch zum Tode verurteilt wird.
“Alles lässt sich regeln, wenn man nur den richtigen Richter hat.”
Als Kall seine eigene Frau unter Kallocain setzt und erfährt, dass die Affäre nur in seiner Fantasie existierte, versucht er zwar noch den Mann zu retten - doch dann holt ihn der Krieg ein.
Die Wahrheit sagen ist auch keine Lösung
Vor einigen Jahren erschien es Vordenkern im Silicon Valley durchaus vielversprechend, in einer Welt ohne Geheimnisse zu leben. Etwa in Form von auf die Gläser von AR-Brillen projizierten Informationen, aber manch einer träumte auch schon vom Gedankenlesen. Um die Idee ist es still geworden, spätestens als totalitäre Staaten wie China mit ihrem Social Score-Modellen den Praxistest versuchten. Anders als manche im Westen glauben, sind die Chinesen aber noch längst nicht so weit ihre komplette Bevölkerung in dieses System zwängen zu können. Man findet es vorwiegend in von Minderheiten bewohnten Regionen, in denen die Zentralregierung Aufstände befürchtet.
Ob China Kallocain kaufen würde? Ohne jeden Zweifel. Ob die Chinesen es so einsetzen würden, wie im Weltstaat? Nein, dazu sind die Chinesen zu klug.
Eine Wahrheitsdroge in der Verbrechensbekämpfung klingt verführerisch. Für totalitäre Staaten gilt das sicher auch im Kampf gegen Widerstandsgruppen. Aber käme man in China auf die Idee, die Kader der kommunistischen Partei unter Drogen zu setzen? Ein Bonze mit gutem Gewissen? Ein Machtmensch, der nicht der Macht wegen herrscht? Möchte eine Elite tatsächlich von Menschen ersetzt werden, die an all das zu 100% glauben, was man ihnen indoktriniert hat? Es ist wie die Figur Rissen, vermeintlicher Nebenbuhler und Chef von Leo Kall, meint, man fände keinen Mitsoldaten über 40 mit reinem Gewissen. Und 40 Jahre erscheint einem genau betrachtet als recht hohes Alter.
Wahrscheinlich spielte die Autorin damit aber auf sich selbst an, schließlich war die schwedische Lyrikerin und Schriftstellerin Karin Boye im Jahr der Veröffentlichung 40 Jahre. Und auch an einigen anderen Stellen scheint die Verfasserin des Werkes klar durch. So klar, dass man bei Kallocain nicht nur von einer weiteren Dystopie, die überragend in einen Roman gegossen wurde, sprechen kann, sondern dem Buch fast das Alleinstellungsmerkmal des weiblichen Blicks zukommt.
Besonders deutlich wird dies, nachdem sich Linda, die Frau der Hauptfigur, auch ohne den Einfluss des Kollacoins ihrem Mann gegenüber öffnet. Früher als ihr Mann hat sie die Mechanismen des Staates durchschaut und war sich hinter ihrer Maske der Unnahbarkeit bewusst, als Frau trotz aller offizieller Gleichberechtigung, doch nur als “Gebärende” gefragt zu sein. Vom faschistischen Ideal der Mutterkreuzträgerin ist man im Weltstaat jedoch weit entfernt, natürlich möchte man möglichst viele Mitsoldaten, aber die gleichberechtigte Frau muss auch bald nach der Geburt zurück in den Beruf. Statt der bei uns üblichen Krippen, hilft in Boyes Roman ein staatliche Kindermädchen aus - in der Haushaltshilfe ebenso kundig wie im Berichte für die Polizei schreiben. Am Ende, da ist sich Linda sicher, würde der Staat nur noch aus Männern bestehen, wäre das mit dem Kinder kriegen nicht.
Auch mit dieser Gleichberechtigung auf dem Papier hatte Karin Boye als eine der ersten Schwedinnen, die ein Studium machen durften, sicher ihre eigenen Erfahrungen. In Schweden ist sie heute noch vor allem als große Lyrikerin bekannt, ihr Leben war jedoch recht kurz und wurde 1941 durch Suizid viel zu früh beendet.
“Kallocain” von Karin Boye - btb Verlag - 1. Auflage - ISBN 978-3-442-77279-7
Titelbild: blondinrikard licensed under CC-BY.