Vergessene Literatur: Warum Carmilla heute noch relevant ist
Ein abgelegenes Schloss in der Steiermark, eine rätselhafte Frau und düstere Träume.
Zusammenfassung: Sheridan Le Fanus Carmilla verdient weit mehr als das Schattendasein im Vorfeld von Dracula. Die Novelle ist ein fesselndes, literarisches Juwel, das seine Leser nicht durch billige Schockeffekte, sondern durch eine dichte, beklemmende Atmosphäre und psychologische Tiefe fesselt. Le Fanu zeichnet ein komplexes Bild weiblicher Begierde und Abhängigkeit, das im prüden 19. Jahrhundert mutig und skandalös war. Wer die Wurzeln des Vampir-Genres verstehen möchte, muss dieses Werk lesen. Es ist ein Klassiker, der beweist, dass die wahre literarische Größe oft im Andeuten und nicht im Aussprechen liegt.
Wenn wir heute über Vampire in Literatur, Film und Popkultur sprechen, führen die meisten den Ursprung dieses, aus mythologischen Zeiten in die sich für entzaubert erklärten Postmoderne rettenden Monster, auf Bram Stokers Dracula zurück. Trotz der Beliebtheit des Genres prägt Dracula bis heute unser Bild vom Vampir. Allerdings weniger der zu Papier gebrachte Dracula von Stoker, als der um den Großteil seiner animalischen Momente beraubten blasierten Aristokraten, als den Bela Lugosi in der prägenden Hollywood-Verfilmung der 1930er den Fürsten erstmals auf Film brachte. Es ist eine Ironie der Filmgeschichte, dass die von Bram Stokers bekämpfte Nosferatu-Stummfilmversion von Friedrich von Murnau dem vom Autor ursprünglich erdachten Vampir näher kam. Hollywood schien sich eher an einer unbedeutenden Erzählung des Byron-Kumpanen Thomas Polidori zu orientieren. In Der Vampyr skizzierte Polidori Lord Byron, dem er in einer wahrlichen Hassliebe verfallen war, so genaus, dass das Publikum oft annahm, eigentlich könnte nur Byron selbst diese Geschichte ersonnen haben.
Doch im Zeitraum zwischen dem Lord Ruthven (1816) und Flad Tepes (1897) ins Licht - oder wohl besser in den Schatten der Welt traten, stieg auch Carmilla (1872) aus ihrem Grab hervor und lies den irischen Author Sheridan Le Fanu einen der letzten Höhepunkte der britischen Gothicliteratur veröffentlichen.
Ein Schloss, eine junge Frau und ein geheimnisvoller Gast
Die Geschichte spielt in einem abgelegenen Schloss in der Steiermark. Die Ich-Erzählerin Laura lebt dort mit ihrem Vater ein ruhiges, fast monotones Leben – bis eines Tages eine geheimnisvolle junge Frau namens Carmilla nach einem Unfall bei ihnen aufgenommen wird. Zwischen den beiden entwickelt sich eine intensive, beinahe übersinnliche Verbindung. Doch mit Carmillas Ankunft mehren sich seltsame Ereignisse: Dorfbewohner sterben an unerklärlichen Krankheiten, und Laura wird von düsteren Träumen heimgesucht.
Nach und nach enthüllt sich, dass Carmilla ein Vampir ist – ein weibliches Wesen, das seine Opfer nicht nur durch Blut, sondern durch emotionale Abhängigkeit an sich bindet. Freilich muss man sich als Leser heute in die Situation der Leser damals hineinversetzen. Tut man das nicht, endet man wie jene Fans der Slasher-Genres, die vorher schon wissen hinter welcher Tür sich der Mörder verbirgt oder wer unter den Teenagern als Final Girl in der Fortsetzung auftauchen wird.
Weiblichkeit, Erotik und Angst im viktorianischen Zeitalter
Carmilla ist weit mehr als eine klassische Schauergeschichte. Le Fanu zeichnet ein komplexes Bild weiblicher Begierde und Abhängigkeit – Themen, die im prüden viktorianischen England als skandalös galten. Die Beziehung zwischen Laura und Carmilla ist von einer unterschwelligen homoerotischen Spannung geprägt, die das Werk auch aus heutiger Sicht bemerkenswert modern erscheinen lässt. So zumindest man moderner Rezeptionist, der dazu neigt gerade die Homoerotik zwischen Freunden oder Freundinnen nach heutigen Maßstäben bewertet und vergisst, das er selbst an einem Zeitgeist mitwirkt, in dem tiefe Freundschaften dem Herrschaftsanspruch des modernen Hedonismus liberaler Gesellschaften im Wege stehen. Mich erinnern solche Äußerungen an die pubertierende Klassenkameradin aus meiner Vergangenheit, deren erste Frage nach dem Lesen von Poes Mord in der Rue Morgue war, ob die beiden Figuren schwul seien.
Einfluss auf die Popkultur
Ob Anne Rice, Joss Whedons Buffy oder aktuelle Streaming-Serien – viele moderne Darstellungen weiblicher Vampire lassen sich bis zu Le Fanus Carmilla zurückverfolgen. Ich persönlich muss sogar gestehen, dass vor meinem geistigen Auge Carmilla ziemliche Ähnlichkeiten mit der von Juliet Landau verkörperten Drusilla aus den frühen Staffeln von Buffy hatte. Es fällt allerdings auch nicht schwer zu glauben, dass sich Whedon beim Schaffen des Charakters nicht nur bei phonetischen Ähnlichkeiten von Le Fanu inspirieren ließ.
Warum sich die Lektüre lohnt
Le Fanus Stil ist von dichter Atmosphäre und psychologischer Tiefe geprägt. Carmilla liest sich wie ein geheimnisvoller Traum – langsam, eindringlich, poetisch. Wer Dracula kennt, entdeckt hier die Vorlage vieler Motive: die Begegnung von Wissenschaft und Aberglaube, der Charme des Bösen und die Frage, was Liebe im Angesicht des Todes bedeutet. Nicht wenig davon ist vielleicht in der vom Umfang deutlich kürzeren Novelle besser ausgearbeitet als in Bram Stokers Briefroman. Das gilt besonders in der Beziehung zwischen Vampir und Opfer.
Kurzum: Carmilla ist ein Klassiker, der nicht nur Literaturgeschichte schrieb, sondern auch heute noch fesselt – gerade weil er mehr andeutet als ausspricht.
Fazit: Sheridan Le Fanus Carmilla ist kein verstaubter Vampirroman, sondern ein faszinierendes Stück Weltliteratur, das weibliche Selbstbestimmung, Begehren und Angst auf kunstvolle Weise miteinander verwebt. Wer sich für düstere Romantik und psychologische Spannung interessiert, sollte dieses Werk unbedingt lesen.