Die Präsenz des Militärischen ist in keinem anderen europäischen Land so verpönt wie in Deutschland. Selbst als es noch die Wehrpflicht gab, die die Bundeswehr zu einer der wenigen Institutionen machte, in der alle Gesellschaftsschichten aufeinander trafen, war der Dünkel der sich zur heutigen liberalen Elite entwickelten Schicht nie zu übersehen. Wenn überhaupt, so die allgemeine Ansicht, dann bräuchte man nur eine Armee, die als erweiter Arm der Entwicklungshilfe dort Brunnen baut, wo es für Zivilisten zu gefährlich wäre.
Der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine hat viele in die bittere Realität zurückgeholt. Dabei hätte ein un-ideologischer Blick bereits zuvor einige Prinzipien des militärischen Kosmos aufzeigen können, von denen man auch im Zivilleben hätte profitieren können - nicht nur, weil sie auf den zweiten Blick dem Militärklischee in vielen Köpfen widersprechen.
“Führen mit Auftrag” ist ein solches Prinzip.
Das Prinzip „Führen mit Auftrag“ (FmA) stellt ein hochwirksames, dezentralisiertes Führungsprinzip dar, das seinen Ursprung im deutschen Militär hat. Es zeichnet sich durch die Betonung klarer Absichten, die Autonomie von Untergebenen und die Förderung von Eigeninitiative aus. Historisch hat sich dieses Prinzip in dynamischen und unsicheren Umgebungen als äußerst erfolgreich erwiesen.
Die strategische Relevanz von FmA für moderne Organisationen nimmt stetig zu. Unternehmen sehen sich heute mit komplexen, sich schnell wandelnden Märkten konfrontiert, die eine hohe Anpassungsfähigkeit erfordern. Die Fähigkeit, schnelle, dezentrale Entscheidungen zu treffen, ist in einem Umfeld, in dem zentrale Befehlsstrukturen zu langsam oder ineffektiv sind, von entscheidender Bedeutung. Die Einführung von FmA-Prinzipien ist somit nicht nur eine Option zur Verbesserung der Organisation, sondern eine strategische Notwendigkeit, um in einem dynamischen Marktumfeld wettbewerbsfähig zu bleiben und zu überleben. Die erwiesene Wirksamkeit unter extremen Bedingungen verleiht ihrer Anwendung in weniger lebensbedrohlichen, aber ebenso komplexen Geschäftsszenarien erhebliche Glaubwürdigkeit. Organisationen, die an starren, zentralisierten Kommandostrukturen festhalten, riskieren, überholt und von agileren Wettbewerbern überflügelt zu werden.
„Führen mit Auftrag“ (FmA), auch bekannt als Auftragstaktik oder Mission Command, ist eine Führungsphilosophie, die tief in der deutschen Militärtradition verwurzelt ist. Sie stellt eine Abkehr von traditionellen Befehls- und Kontrollmodellen dar und unterschied bzw. unterscheidet die Bundeswehr von den meisten anderen Armeen, auch innerhalb der NATO.
Das Kernprinzip besteht darin, dass der Vorgesetzte das Ziel (das „Was“ und „Warum“) klar definiert, den Untergebenen jedoch einen erheblichen Freiraum bei der Wahl der Methoden und Mittel (das „Wie“) zur Erreichung dieses Ziels einräumt. Dies befähigt die ausführende Einheit, sich an unvorhergesehene Umstände anzupassen, ohne ständig neue Genehmigungen einholen zu müssen.
Zu den wesentlichen Elementen von Führen mit Auftrag gehören:
Klare Aufgabenstellung
Autonomie und Handlungsfreiheit der Untergebenen
Initiative und Anpassungsfähigkeit der Untergebenen
Gegenseitiges Vertrauen
Kompetenz und Ausbildung als Grundlage
Preußen ohne Kadavergehorsam(?)
„Führen mit Auftrag“ entstand im 19. Jahrhundert in der preußischen Armee, beeinflusst von Militärstrategen wie Helmuth von Moltke dem Älteren und Carl von Clausewitz. Seine Entwicklung war eine pragmatische Antwort auf die Herausforderungen, immer größere Armeen über weite und unvorhersehbare Schlachtfelder zu führen, wo eine direkte Echtzeitkontrolle von einer zentralen Kommandostelle unmöglich war. Moltke stellte bekanntlich fest, dass „eine günstige Situation niemals ausgenutzt wird, wenn Kommandeure auf Befehle warten“ , was die Notwendigkeit sofortigen, dezentralen Handelns unterstreicht.
Militärische Vorteile des Führens mit Auftrag
Flexibilität und schnellere Entscheidungsfindung
Entlastung der höheren Führung
Anpassungsfähigkeit an Unsicherheit
Förderung von Initiative und Improvisation
Stärkung der Untergebenen und deren Motivation
Verbesserte Durchführung groß angelegter Operationen
Hohe Präzision und Geschwindigkeit
Herausforderungen des Führens mit Auftrag
Erfordert hochqualifizierte und kompetente Untergebene
Risiko des Ungehorsams und der Rechenschaftspflicht
Notwendigkeit von Selbstvertrauen bei jungen Offizieren
Potenzial für Fehlinterpretationen
„Führen mit Auftrag“ in zivilen Unternehmen anwenden
Dieses Führungsprinzip kann allerdings auch im zivilen Bereich hilfreich sein, und wird dort auch tatsächlich eingesetzt. Denn die moderne Unternehmenslandschaft ist durch zunehmende Komplexität, rasante technologische Fortschritte und unvorhersehbare Marktveränderungen gekennzeichnet. Diese Bedingungen ähneln zunehmend den volatilen und unsicheren Umgebungen, für die FmA im Militär entwickelt wurde. Traditionelle, starre, Top-down-Managementstrukturen erweisen sich oft als zu langsam und unflexibel, um effektiv auf diese dynamischen Anforderungen zu reagieren, wodurch Kreativität und schnelle Entscheidungsfindung erstickt werden.
Führen mit Auftrag bietet eine überzeugende Alternative, indem es die Entscheidungsfindung dezentralisiert, Vertrauen fördert und kontinuierliches Lernen und Anpassung anregt, was zu schnelleren Reaktionszeiten und einem größeren Gefühl der Eigenverantwortung bei den Mitarbeitenden führt. Es verlagert den Fokus von starrer Kontrolle auf flexible, Bottom-up-Entscheidungsfindung.
Voraussetzungen für die Umsetzung in Unternehmen
Die erfolgreiche Implementierung von „Führen mit Auftrag“ in Unternehmen erfordert bestimmte Voraussetzungen:
Starke Führungskräfteentwicklung: Führungskräfte müssen darin geschult werden, Absichten effektiv zu kommunizieren, Verantwortung zu delegieren und ihren Teams zu vertrauen. Dies erfordert oft einen grundlegenden „Mentalitätswandel“ vom Befehls- und Kontrollansatz hin zur Befähigung.
Kultur des Vertrauens und der Transparenz: Ein Umfeld hohen Vertrauens ist grundlegend. Dies wird durch offenen Informationsaustausch, konsistentes Führungsverhalten und ein Engagement für psychologische Sicherheit aufgebaut.
Klare Vision und strategische Ausrichtung: Die „Absicht des Kommandeurs“ muss in eine klare, allgemein verständliche Unternehmensvision oder strategische Ziele übersetzt werden, die alle dezentralen Handlungen leiten.
Kompetente und befähigte Belegschaft: Mitarbeitende benötigen die notwendigen Fähigkeiten, Kenntnisse und das Urteilsvermögen, um eigenständige Entscheidungen effektiv treffen zu können.
Bereitschaft, Fehler zu tolerieren und daraus zu lernen: Die Schaffung einer Organisationskultur, die Fehler als Lernchancen und nicht nur als Misserfolge betrachtet, ist entscheidend für die Förderung von Initiative.
Effektive Kommunikationskanäle: Robuste Kanäle sind erforderlich, um ein gemeinsames Verständnis zu gewährleisten, Feedback zu erleichtern und Informationssilos zu vermeiden.
Um das alles zu erreichen, braucht es allerdings oft die Bereitschaft zu einer kompletten Transformation der Führungskultur in Unternehmen. Denn Führen mit Auftrag steht den Top-Down-Managementansätzen großer Unternehmen ebenso im Weg wie den Alleinherrscher-Ansprüchen von Firmenchefs in KMUs.
"Ein Ziel ohne Plan ist nur ein Wunsch.", Antoine de Saint-Exupéry
Problem bei der Umsetzung in Unternehmen
Die Probleme zeigten sich dabei auch bereits früh im militärischen Umfeld und sind wohl so fast eins zu eins auf die Anwendung in Unternehmen übertragbar. Die hervorgehobenen Herausforderungen, wie der Kampf von Führungskräften, Kontrolle abzugeben, die Angst von Untergebenen vor Repressalien usw., weisen alle auf tief verwurzelte Verhaltens- und psychologische Barrieren hin. Die bloße Änderung von Organigrammen oder Prozessen ohne Berücksichtigung der zugrunde liegenden Denkweisen und ohne die Förderung einer Kultur des Vertrauens und der psychologischen Sicherheit wird wahrscheinlich zu einer oberflächlichen Implementierung oder zur bloßen Show führen.
“Es gibt keine schlechten Mannschaften, Marschall. Es gibt nur schlechte ausgebildete Offiziere.”, Napoleon (leicht korrigiert)
Die Bundeswehr investiert viel Zeit bei der Offiziersausbildung in das Prinzip der Inneren Führung, dessen Bestandteil das FmA ist. Das Unternehmen, in denen Zeit Geld bedeutet und sie zu selten als Investition verstanden wird, dies ebenso leisten können (oder eben wollen) ist leider allzu oft unwahrscheinlich.
Führen mit Auftrag - Führen in den Erfolg
Aber, es würde sich lohnen, denn Führung mit Auftrag kann sich auch in Unternehmen besonders positiv auswirken:
Die Befähigung von Einzelpersonen auf allen Ebenen, Entscheidungen auf der Grundlage ihres Verständnisses der übergeordneten Absicht zu treffen, führt zu erheblich schnelleren Reaktionszeiten.
Wenn Mitarbeiter Freiheit und Vertrauen gewährt wird, ist es wahrscheinlicher, dass sie kreative Lösungen für Probleme entwickeln. FmA fördert ein Umfeld, in dem Mitarbeiter das Gefühl haben, dass ihre Ideen geschätzt werden, was sie dazu ermutigt, innovative Lösungen beizusteuern. Es fördert Experimente und kalkulierte Risikobereitschaft, die für bahnbrechende Innovationen unerlässlich sind.
Mitarbeiter, die bei ihrer Arbeit mitbestimmen können und deren Beitrag zu den übergeordneten Zielen verstehen, erfahren eine erhöhte Arbeitszufriedenheit und Produktivität. Indem Mitarbeiter mit dem „Warum“ der Mission in Einklang gebracht werden, werden sie zu Befürwortern des Ziels, was ein tieferes Gefühl der Eigenverantwortung und Rechenschaftspflicht fördert.
Die Fähigkeit, sich schnell an neue Situationen anzupassen, ist entscheidend, um in sich schnell ändernden und unvorhersehbaren Geschäftsumgebungen erfolgreich zu sein. FmA ermöglicht es Organisationen, bei Bedarf schnell umzuschwenken und effektiv auf sich ändernde Kundenanforderungen, digitale Transformationen oder Marktkrisen zu reagieren.
Die kombinierten Vorteile von FmA, wie Agilität, Innovation, Engagement und Anpassungsfähigkeit, führen zu einem tieferen strategischen Vorteil: der Optimierung des Humankapitals. Indem Mitarbeitende befähigt und ihre Initiative gefördert werden, erschließen Organisationen nicht nur ihre kollektive Intelligenz und Kreativität, sondern bauen auch eine widerstandsfähigere, sich selbst organisierende und kontinuierlich lernende Belegschaft auf.