Ein Linker entdeckt den Klassenkampf
Jean-Philippe Kindler kritisiert die Linke sich auf moralische Debatten und Identitätspolitik konzentriere.
Die einzige Überraschung bei den letzten Bundestagswahlen dürfte für Beobachter das Ergebnis der Linken gewesen sein. Eigentlich hatten viele die Partei schon abgeschrieben. Manche sahen in der Wagenknecht-Truppe bereits deren Nachfolger ins Parlament einziehen.
Es kam anders: Die Wiederauferstehung der Linken rockte den Wahlabend.
Warum die Linke wirklich zulegte
Im Nachhinein ist man bekanntlich immer schlauer. Zum einen büßten die sich betont zahm gebenden Grünen Teile ihres linken Randes ein. Zum anderen machte die Linke einen populistischen Wahlkampf zu den Themen Inflation und Mieten.
Für manche kam das überraschend. Eines hörte man bei den Linken nur ganz nebenbei: die Identitätspolitik – also politische Strategien, die die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in den Mittelpunkt stellen, etwa nach Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung. Gerade für Beobachter aus dem bürgerlichen und rechten Lager war die Identitätspolitik längst Markenzeichen und Hauptanliegen der Linken geworden.
Kindlers Kritik an der Selbstbezogenheit der Linken
Vielleicht haben die Wahlstrategen der Partei auch nur Jean-Philippe Kindlers Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf gelesen. Das kleine Buch ist vorwiegend eine Kapitalismuskritik. Dennoch richtet Kindler seine Worte auch an eine Linke, die er als zu sehr mit sich selbst beschäftigt beschreibt.
Er wirft ihr vor, in moralischen Reinheitsdebatten und Bußrhetorik zu verharren, statt solidarische, kollektive Strategien zu entwickeln. Sein Appell: weg vom isolierten „Ich“ zurück zu einem solidarischen „Wir“.
Quotenpolitik als Scheinlösung
Kindler verdammt nicht das grundsätzliche Anliegen, benachteiligte Gruppen zu fördern. Er stellt jedoch etwas für einen Linken Ungewöhnliches fest: Was nützt die Quotenfrau im Vorstand, wenn die Frau am Band weiter im Akkord schuften muss? Was ändert ein schwarzer Manager oder eine lesbische Abteilungsleiterin, wenn ihre schwarzen oder homosexuellen Mitarbeiter trotzdem ausgebeutet werden?
Ein Blick auf Quoten in politischen Parteien oder DAX-Unternehmen zeigt: Sie existieren oft schon länger, ohne dass sich grundlegend etwas geändert hätte. Nüchtern betrachtet sorgt die Quote oft nur dafür, dass auch die Tochter des Unternehmers aus Hamburg-Blankenese eben auch noch einen gut dotierten Job bekommt – nachdem der Sohn bereits versorgt ist. Das kann man als Sieg für den Feminismus deuten, doch für die Gesellschaft als Ganzes ist es ein vergifteter Sieg.
„Der Kapitalismus bietet dementsprechend einen vergifteten Kompromiss: Wollen wir, statt die Herrschaft abzuschaffen, diese diverser gestalten?“
Kapitalismus, Selbstoptimierung und psychische Belastung
Als Arbeiterkind ist es für mich eine bittere Erkenntnis, dass die Linke den Arbeiter verraten hat – sie hat sich vom Kapitalismus kaufen lassen.
Kindler formuliert das weniger scharf, sieht aber ebenfalls, dass Verantwortung für das eigene Glück zunehmend auf das Individuum abgewälzt wird.
Strukturelle Ungleichheiten, Ausbeutung und Machtverhältnisse bleiben bestehen. Wer sich teure Coachings, Yoga-Retreats oder Achtsamkeitsseminare leisten kann, verfügt meist schon über ein komfortableres Leben. Für Menschen im Niedriglohnsektor bleibt „Glück“ dagegen eine unerreichbare Versprechung.
Kindler beschreibt eine Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung zur „Gefühls- und Kulturware“ geworden ist, die man sich leisten kann, wenn man nur genug Leistung zeigt. Wer nicht glücklich ist, gilt dementsprechend als persönlich gescheitert.
Die Kombination aus Leistungsdruck und Nichterreichen des Glücks sieht Kindler als Ursache der wachsenden psychischen Erkrankungen. Er zitiert den marxistischen Theoretiker Mark Fisher:
„Die ‘Pest der psychischen Erkrankungen’ in kapitalistischen Gesellschaften weist darauf hin, dass der Kapitalismus eben nicht die einzig funktionierende Gesellschaftsordnung ist, sondern dass er inhärent dysfunktional ist und die Kosten für die Illusion seiner Funktionsfähigkeit hoch sind.“
Die Grenzen von Kindlers Ansatz
Das Problem der Linken: Auch andere wissen, dass man ein dysfunktionales System nicht durch ein anderes – historisch ebenfalls gescheitertes – ersetzen möchte. (Ja, ich rede vom real gescheiterten Sozialismus.) Kindler liefert außer der Forderung nach Erbschafts- und Vermögenssteuer kaum Lösungen.
Er bleibt zudem bei den klassischen Feindbildern der Linken: Liberale und Konservative. Wobei er unter „konservativ“ oft Liberale versteht, denen Familienwerte wichtig sind. In seiner Darstellung wirkt Friedrich Merz wie ein Mister-Burns-artiger Bösewicht des konservativen Spektrums, statt als marktliberaler Machtmensch.
Hier zeigt sich eine Blindheit: Die Linke schlägt die Tür zu jenen Konservativen zu, die etwa der katholischen Soziallehre folgen – einer christlich geprägten Sozialethik, die Solidarität, Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit betont.
Kindler versteht zudem nicht, dass das Problem der Linken ihre „Selbstliberalisierung“ ist. Identitätspolitik ist nichts anderes als reiner Liberalismus – und trägt zur weiteren Aufsplitterung der Gesellschaft bei. Am Ende steht der Mensch als eigene „Ich-AG“, losgelöst von Bindungen, vor allem der Familie – ein Wunschbild des Kapitalismus.
Migration als blinder Fleck
Kindler behandelt die Migrationskrise nur kurz. Er befürwortet sie und hält sie angesichts von Demografie und Fachkräftemangel für notwendig. Dass viele seit 2015 eingewanderte Menschen in den Sozialsystemen hängen bleiben, würde er dem System anlasten.
Dass ein großer Teil des Rests der Migranten dann nicht zu Fachkräften wird, sondern mit Deutschen im Niedriglohnsektor konkurriert, erwähnt er nicht. Ebenso wenig, dass Zuwanderung den angespannten Wohnungsmarkt verschärft. Dass Migranten durch Unterstützung von Behörden und freiwilligen Helfern teils bevorzugt Wohnungen erhalten, wäre für Kindler vermutlich zu viel der Wahrheit.
Fazit
Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf ist eine lesenswerte, für das linke Spektrum erstaunlich ausgewogene Streitschrift. Kindler erinnert daran, dass es in der Ökonomie mehr Stimmen gibt als jene, die im Mainstream das kapitalistische System zementieren.
Der herrschende Kapitalismus ist nicht alternativlos – aber er lässt sich nicht durch Sozialismus überwinden, sondern nur durch eine Wirtschaft, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, nicht das Kapital.
“Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf” von Jean-Philippe Kindler - Rowohlt Taschenbuchverlag - 5. Auflage Oktober 2024
Quellen und weiter Informationen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Mark_Fisher