Cassandra
Ein vom Wahnsinn besessener Vater wird zum Mörder der eigenen Tochter. Frei nach Edgar Allan Poe.
Vorbemerkung: Die folgende kleine Kurzgeschichte ist bereits einige Jahre alt und zuletzt 2024 überarbeitet worden. Eventuelle Auffälligkeiten bitte ich also dem damals noch jugendlichen Autor nachzusehen.
“Cassandra” wird Freunden von Edgar Allan Poe gewiss bekannt vorkommen. Einer kleinen Sammlung seiner Kurzgeschichten, die vor Ewigkeiten im Schulunterricht behandelt wurde, ist das Zitat von Conan Doyle entnommen. Es ist dort, wenn ich mich recht erinnere dem Vor- oder Nachwort vorangestellt. Das Zitat finde ich vielleicht auch deshalb so passend, weil mancher in Cassandra sicherlich Morella wiedererkennen wird. Einer seiner vielleicht weniger bekannten Erzählungen, die sich dennoch wie “zischendes Blei in die Windungen meines Hirns gefressen” hat.
„Wenn jeder Autor, der ein Honorar für eine Geschichte erhält, die ihre Entstehung Poe verdankt, den Zehnten für ein Monument des Meisters abgeben müsste, dann ergäbe das eine Pyramide so hoch wie die von Cheops.“, Sir Arthur Conan Doyle
Selbst Jahre danach kann ich immer noch nicht begreifen, was mich von Beginn an so an Cassandra fasziniert hatte. Wahrscheinlich kann kein Mann beschreiben, warum er plötzlich in einer Frau die wahre Liebe gefunden zu haben glaubt. Ein derartiges Gefühl entzieht sich jeder rationalen Herangehensweise, es gibt keine Liste, auf der man einen Punkt nach dem anderen abhaken kann und am Ende lässt sich mittels einer Summe genau ausrechnen, ob es jetzt die wahre Liebe ist, oder nur eine Lebensabschnittsgefährtin. Das ist einer der Punkte im Leben, die einfach da sind, man wacht am Morgen auf und es herrscht absolute Gewissheit. So war es auch mit Cassandra, ich wachte eines Morgens auf, nicht einmal neben ihr, und wusste das ich das Stadium der Verliebtheit verlassen und in den tiefen dunklen Folterkeller der Liebe hinabgestiegen war. Dabei hatte ich mich für immun gehalten, Beziehungen waren für mich Mittel zum Zweck. Es gab gute, rationale Gründe für eine Beziehung. Sex war der erste Grund den ich gehabt hatte. Danach kamen andere, die Familie wollte sicher gehen, dass ich nach dem Auszug von zu Haus nicht vereinsamte. Sex, das Vorspielen zwischenmenschlicher Beziehungen, alles gute rationale Gründe eine Beziehung einzugehen. Liebe? Nein, Liebe war für mich die Erfindung von schlechten Schriftstellern, die damit den Absatz ihrer Groschenromane förderten. All dass habe ich geglaubt, im Grunde glaube ich es noch heute. Bestätigen Ausnahmen nicht die Regel? Ein grauenvoller Spruch, aber solche Sprüche sind immer ziemlich nützlich, um sich etwas zurecht zubiegen, was im Leben eigentlich doch recht schief gelaufen ist. Diese Ausnahme war Cassandra. Es hatte begonnen, wie es immer begonnen hatte. Ich hatte die Entscheidung getroffen, dass meine Singlephase schon etwas zu lange gedauert hatte. Also sah ich mich in meiner Umgebung etwas aufmerksamer als üblich um, fragte vorsichtig in meinem Bekanntenkreis nach und verfolgte sogar diverse Dokus über die Frauensuche in Osteuropa. Nicht das ich in Versuchung wäre mir eine Frau aus dem Katalog zu bestellen, ich glaube ich hätte nichts mit ihr anfangen können, weil das Rückgaberecht wohl auch in diesem Fall bei nur 14 Tage liegen dürfte. Das klingt jetzt hart, ich weiß, aber wie gesagt, ich hatte beschlossen meinem Singleleben wieder eine temporäre Pause zu gönnen, ich war nicht auf der Suche nach der ewigen Liebe. Hobbypsychologen könnten jetzt sogar behaupten, ich sei auf der Flucht vor der ewigen Liebe gewesen. Ich habe sie nicht gesucht, sie hat mich gesucht und sie hat mich gefunden. Die ewige Liebe, in ihren sprichwörtlichen Sinn, ewige Liebe.
Cassandra hatte ich zuvor noch nie gesehen, sie war die Freundin einer Freundin eines Freundes. Ich hatte zuvor noch nicht einmal etwas von dieser Freundin gehört, die durch Zufall bei einem Gespräch dabei war, in der ich mit meinem Freund darüber sprach auf der Suche zu sein. Diese Freundin, ich habe ihren Namen ehrlich gesagt vergessen, wenn der Leser unbedingt einen haben möchte, nennen wir sie einfach Petra, mischte sich bald lebhaft ein und begann von Cassandra zu erzählen. Einer alten Freundin von ihr, die endlich mal einen Freund haben sollte. Ich musterte Petra, oder wie auch immer sie hieß, aufmerksam. Sie war um die 19 oder 20, pechschwarz gekleidet, geschminkt – ein Grufti. Ich konnte mir diese Cassandra ziemlich gut vorstellen, wahrscheinlich noch jünger, dafür aber noch schwärzer gekleidet. Ich versuchte den Verkuppelungsversuch im Keim zu ersticken, in dem ich mein eigenes Alter ins Spiel brachte. Es hat nicht funktioniert, ich weiß nicht warum, aber als ich die Wohnung meines Freundes an diesem Abend verließ, hatte ich eine Verabredung mit Cassandra. Oh, wie dieser Name klingt, wenn ich ihn hier wieder ausspreche. Jede Silbe, jeder Buchstabe ruft die Erinnerung in mir wach. Ja, ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen, als ich sie zum erstenmal sah. Aber es ist nicht eine dieser intensiven Erinnerungen, von denen man weiß sie nicht vergessen zu können, schon von dem Moment an, in denen man sie erlebt hat. Es ist eine Erinnerung anderer Art, sie brannte sich erst in meinen Kopf ein, an dem Morgen, an dem ich aufwachte und wusste das Cassandra die Liebe meines Lebens sein würde. Als ich sie aber tatsächlich das erstemal sah, war ich lediglich so etwas wie angenehm überrascht keine schlimmere Version von Petra vorzufinden. Sicher, auch sie war dunkel gekleidet, hatte langes schwarzes Haar, noch schwärzere Lidschatten, aber nicht ganz so gruftiartig wie ihre Freundin. Sie war nicht im eigentlichen Sinn des Wortes „schön“, vielleicht hübsch, zumindest nicht hässlich. Das fand ich damals zumindest, aber vielleicht hatte ich sie mir auch einfach nicht so genau angesehen. Ich wusste noch immer nicht warum ich diesem Blind Date überhaupt zugestimmte hatte, ich wollte sozusagen der Höflichkeit genüge tun, mich den Abend mit ihr unterhalten und dann zumindest das Rückgrat aufweisen nicht so etwas zu sagen wie: „Ich ruf dich an!“ Am Ende sagte ich ihr glaube ich genau diesen Satz, und am nächsten Morgen rief ich sie an.
Von diesem ersten Date an vergingen nicht viele Tage bis zu jenem Morgen, an dem ich aufwachte und wusste es würde für mich kein Leben mehr ohne sie geben. Es war eine Liebe, die vielleicht auch Besessenheit genannt werden konnte. Ich liebte sie, ich liebte es schon allein sie anzublicken. Ihr schmalen Lippen, die ein ureigenes Lächeln zu haben schienen. Kein freudiges oder glückliches Lächeln, es war ein Lächeln voller – Vielleicht sollte ich besser ihre Augen beschreiben, denn nichts an ihrem Äußeren hat mich vom ersten Moment an mehr fasziniert als diese Augen. Alles andere an ihr mochte Makel haben, ja, makellos war sie keinesfalls. Ein bisschen zu klein, ihr Gang war krumm, ihre Ohren zu groß, die Lippen zu klein. Aber diese Augen waren an der Grenze zur absoluten Perfektion. Stunden lang hätte ich nichts anderes tun können als nur in ihre Augen zu sehen. Manchmal blieb ich in der Nacht wach und blickte im Halbdunkel auf ihre geschlossenen Augen. Es war beinahe so, als könnte ich diese intensive Kraft durch die Augenlider hindurch spüren. Diese Augen waren voller trauriger Melancholie, sie waren so unendlich tief und klar wie die untergehende Sonne. Ich ging völlig darin auf, ich versank in dieser Unendlichkeit der Traurigkeit.
Und ich versank schnell. Schon nach wenigen Wochen zogen wir zusammen. Wir wählten ihre Wohnung, warum auch immer. Im Grunde eine irrationale Entscheidung, meine eigene Wohnung war größer, besser gelegen und weil ich schon seit Jahren darin lebte auch noch billiger. Aber Cassandra wollte ihre eigene Wohnung behalten und so zog ich nach wenigen Wochen bei ihr ein. Ich nahm im Grunde nicht mehr Sachen mit, als wäre ich auf dem Weg in ein Hotel. Ein paar Sachen zum Anziehen, einen Waschbeutel, meinen Computer, das war es im Grunde auch schon. Alles was ich sonst noch besaß wanderte über kurz oder lang auf den Dachboden meiner Eltern, über kurz oder lang weil ich in einem Anfall von Vernunft meine alte Wohnung nicht sofort aufgab, sondern nach und nach nur weniger in ihr war. Doch irgendwann war ich ein halbes Jahr nicht mehr dort, dann schrieb ich dem Vermieter und schickte meine Eltern vorbei, die alles in Kartons verstauten und mit zu sich nach Hause nahmen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Wohnung gemeinsam mit Cassandra kaum noch verlassen. Wir leben in modernen Zeiten, wer will und halbwegs intelligent ist, der ist nicht mehr gezwungen seine Wohnung zu verlassen. Nicht zum einkaufen, nicht zum arbeiten, überhaupt nicht mehr. Ich arbeitete als Online-Journalist, mein Thema und meine Informationsquelle war das Internet. Cassandra selbst arbeitete nicht, sie bekam monatlich ein Taschengeld von ihren Eltern, das mein eigenes Einkommen bei weitem überstieg. Das Essen bestellten wir per Internet oder manchmal auch auf die gute alte Methode mittels Telefon. Es wurde geliefert, so wie alles andere auch. Wir schotteten uns ab, ließen oft sprichwörtlich die Rollläden herunter, obwohl wir im 10. Stock lebten und um das Gebäude herum kein anderes stand, von dem aus man in unsere Wohnung hätte sehen können. Es ging um die Dunkelheit, ich glaube es ging nur um dieses Halbdunkel, das immer in dieser Wohnung zu herrschen schien.
Im Laufe der Zeit arbeitete ich immer weniger, wozu auch, statt dessen lies ich mich immer tiefer in Cassandras Welt hineinziehen. Sie beschäftigte sich mit diesen düsteren Dingen, die mir zuvor fremd gewesen waren, die ich aber jetzt zu verstehen begann. Es waren die großen Autoren aus vergangenen Zeiten, die wir zusammen lasen und besprachen. Edgar Allan Poe, der vielleicht so etwas wie ihr Gott war. Wir lasen die schaurig-düstren Gedichte von Charles Baudelaire. Oder die tief-melancholischen Texte von Heinrich Heine. Nie, und ich habe wirklich versucht mich zu erinnern, habe ich in dieser Wohnung etwas fröhliches gelesen, ich glaube ich habe nicht einmal etwas gelesen, was jünger war als 50 Jahren. Wir lebten in einer eigenen Vergangenheit, völlig isoliert, ermöglicht durch die modernen Zeiten der Kommunikation. Ich verlor auch jedes Gefühl für Zeit, Tag und Nacht verschwammen zusehends, die Datumsanzeige auf dem Computer verlor jegliche Bedeutung. Daten wie der 24. Dezember waren irrelevant, es waren Zahlen auf dem Bildschirm, ich hätte sie ja nicht einmal mehr einem Wochentag zuordnen können. Ich verlor jeglichen Kontakt zu Freunden und Familie, nicht einmal mehr per Telefon oder Email sprach ich mit ihnen. Cassandra schien gar keine Kontakte mehr zu haben, weder zu Freunden noch zu ihren Eltern. Zumindest bekam ich nie etwas davon mit, und da wir 24 Stunden am Tag zusammen waren, gab es wohl wirklich keine Kontakte. Auch von jener Freundin, die mich damals überredete, mich mit Cassandra zu treffen, hörte ich nie wieder etwas. Es schien mir fast so, als hätte sie niemals existiert. Mit den vergehenden Monaten war ich mir nicht einmal sicher, ob es diese erste Verabredung da draußen in der Außenwelt überhaupt gegeben hatte. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass Cassandra jemals ihre Wohnung verlassen würde. Hatte ich mich wirklich mit ihr getroffen, die wenigen Male bevor ich zu ihr zog? Oder war ich in meinem früheren Leben vielleicht ein Pizzabote gewesen, der an der Tür klingelte, in ihre Augen sah und hineingezogen wurde, in eine Welt die eine Welt für sich war, aber weit weg von der Realität dort draußen. Je länger und häufiger ich in solchen Gedanken versunken war, desto mehr begann ein neues Gefühl für sie in mir wach zu werden. Ein Gefühl, dass in kürzester Zeit nicht minder stärker wurde, als meine unerschütterliche Liebe zu ihr. Es war Hass. Ich begann sie zu hassen. Sie beherrschte mein Leben, ich hatte aufgehört irgendetwas zu tun, ohne das ich mir vorher nicht überlegen würde, was sie wohl wollte was ich tat. Ich begann sie zu hassen, ich liebte ihre Gegenwart und empfand zugleich Ekel in ihrer Gegenwart. Ich wollte aus der Wohnung fliehen und suchte mehr denn je ihre Nähe. Sie spürte es, die Melancholie in ihren Augen verwandelte sich mehr und mehr in einen undefinierbaren, aber wissenden Zustand. Ich verletzte sie, und mit jedem Stich den ich ihr versetzte, versetzte ich mir selbst einen Dolchstoß in mein Herz.
Sie wurde schwanger. Und für einen kurzen Moment begann ich mich wieder an die Außenwelt zu erinnern. Ich hatte mich daran gewöhnt so ziemlich alles ohne einen Dritten zu regeln, dabei hatte es bis jetzt auch keinerlei Probleme gegeben. Wie ich schon erwähnte, alles lässt sich heutzutage per Internet oder Telefon regeln, man brauchte nur die nötigen finanziellen Mittel, und die besaßen wir dank Cassandras Familie reichlich. Aber eine Schwangerschaft? Ich redete auf sie ein zu einem Arzt zu gehen, aber Cassandra weigerte sich beharrlich das Haus deshalb zu verlassen. Sie weigerte sich ebenso einen Arzt in unsere Wohnung zu lassen. Es war auch diese Zeit ihrer Schwangerschaft, in der wir uns so offensichtlich zu entfremden begannen, dass es auch ein Dritter bemerkt hätte. Wir reden nicht mehr miteinander, wenn wir sprachen, dann sprachen wir ausschließlich mit dem ungeborenen Baby in ihrem Bauch. Das wuchs und wuchs, ich konnte nur schätzen in welchem Monat sie war. Aber sehr effektiv war ich dabei wohl kaum, zum einen hatte ich mit schwangeren Frauen nicht die geringste Erfahrung, zum anderen hatte ich auch, wie bereits erwähnt, jegliches Zeitgefühl verloren. Wie gesagt, wir sprachen nicht mehr mit ihr. Also begann ich das Ungeborene zu fragen wie es auf die Welt kommen sollte, so ganz ohne Hilfe. Daraufhin beruhigt sie das Baby und versicherte dem Kleinen, dass im entscheidenden Moment schon jemand helfen würde. Damit war die Sache für das Baby erledigt, und es hörte nie wieder etwas über die Planungen seiner immer näher rückenden Geburt. Ohne miteinander zusprechen setzten wir dennoch unsere Studien ihrer Literatur fort, wir lasen mehr denn je, manchmal mussten wir nur dann eine Pause einlegen, wenn die Bücher nicht rechtzeitig nachgeliefert wurden, und wir den vorhandenen Bestand auswendig kannten, also nicht einmal mehr die Buchdeckel aufschlagen mussten, um den Inhalt wiedergeben zu können. Noch heute, jetzt, wo ich in dieser fensterlosen Zelle sitze, wieder abgeschottet von der Außenwelt und mein einziger Kontakt die Ärzte und Pfleger sind, selbst jetzt gehe in meiner Fantasie noch zu dem Bücherschränken und Stapel ihrer Wohnung, nehme eines Bücher, schlage es auf und murmele dann den Inhalt auf dem harten Bett vor mich her. Als ich es gemeinsam mit Cassandra tat, glaubte ich dem Wahnsinn immer näher zu kommen, aber jetzt, wo mich einige sogenannte Fachleute als wahnsinnig bezeichnen, glaube ich das mich eben dieses Murmeln vor dem Wahnsinn rettet.
Das es soweit war, merkte ich nicht durch irgendwelche Anzeichen an ihr selbst. Keine sichtbaren oder auch hörbaren Wehen, obwohl ich es im Grunde natürlich doch durch Cassandra selbst erfuhr. Eines Tages läutete es an der Tür, unangekündigt, allein das war schon ungewöhnlich. Gewöhnlich war jeder Besuch angekündigt, obwohl ich, wie der Leser vermuten wird, statt „Besuch“ besser „Lieferung“ schreiben sollte. Doch dieses Läuten war unangekündigt, die Post war schon gekommen, Lebensmittel wurden erst am darauffolgenden Wochentag geliefert. Für mich war das Läuten also völlig überraschend, aber Cassandra schien es erwartet zu haben. Ich stand damals praktisch vor der Wohnungstür, aber statt zu öffnen, überlegte ich wie versteinert dastehend, wer es sein könnte. Cassandra aber kam schweigend aus unserer kleinen Bibliothek, ging zur Tür und öffnete sie. Es war jene Freundin von ihr, die uns seinerzeit zusammengebracht hatte. Die Schuldige an meinem unermesslichen Unglück, die Verursacherin des Glücks meines Lebens. Die beiden Frauen flüsterten sich zur Begrüßung etwas zu, ich glaube, es war nicht einmal in einer mir bekannten Sprache. Ich ballte die Faust in der Tasche, schließlich dient dieses Flüstern und das Murmeln in fremden Zungen doch einzig und allein mich auszuschließen. Mit mir sprach die Besucherin die ganze Zeit über kein Wort, sie nahm Cassandra an die Hand und führte sie ins Schlafzimmer, wo diese bereits alles für die Geburt vorbereitet hatte. Erst jetzt, genau in diesem Moment, wurde mir klar, das es soweit war.
Während der ersten Schreie ging ich im Zimmer nebenan auf und ab. Ich hörte sie deutlich durch die Wand, mehrmals ging ich ganz nahe heran und legte meine Hand auf die eiskalte Tapete. Dann stieß mich irgendetwas zurück, beinahe hatte ich das Gefühl als würde jemand mich an den Hüften packen und fortziehen. Etwas wollte mich mit aller Macht aus dieser Wohnung reißen, jetzt, wo meine geliebte Gefängniswärterin abgelenkt war. Doch ich floh nicht, ich konnte doch jetzt nicht gehen, ich hatte doch bald Verantwortung als Vater. Selbst auf die Geburt hatte ich mich vorbereitet, ich hatte mir Bücher schicken lassen, mir Videos von Geburten im Internet angesehen, doch jetzt marschierte ich hilflos in einem anderen Zimmer auf und ab. Was konnte ich schon tun? Cassandra war ja nicht allein, die Schreie drangen mir durch Mark und Bein. Wenn ich je nach dem Gefühl gesucht hatte, das diese Worte umschrieben, jetzt spürte ich es am eigenen Leib. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ich konnte die Schreie nicht länger ertragen, ich musste zu ihr, ich musste doch zu ihr, wenn sie so große Schmerzen hatte, musste ich ihr doch beistehen. Ihr und dem Baby. Ich stürmte in das Zimmer neben an, an der Tür blieb ich wie versteinert stehen. In ihren Händen hielt unsere Besucherin ein blutverschmiertes Etwas, trug es zu einer Schüssel Wasser und wusch es. Cassandra jedoch richtete ihren Oberkörper auf, ihr Körper war schweißgebadet, das Haar klebte ihr im Gesicht. In ihren Augen lass ich Erschöpfung, doch bald war die Erschöpfung verdrängt von der gleichen absurden Mischung aus Liebe und Hass, die sie hatte in meinen Augen so oft lesen können. Ihre Lippen bewegten sich, mit dem Bruchteil einer Sekunde Verzögerung – mir kam es vor wie eine Ewigkeit – konnte ich sie sprechen hören. „Da bist du endlich! Jetzt, wo alles vorbei ist, wo meine Schmerzen endgültig beendet sind willst du mir beistehen. Mir, die du einst so sehr geliebt hast, mehr als dein eigenes Leben. Und jetzt, jetzt hasst du mich. Warum bist du hier? Du willst mir mein Kind wegnehmen, mein Leben. Du sollst es haben, es gehört nur dir. Du wirst es mehr lieben, als du mich hättest je lieben können. Durch dieses Kind wirst du mich mehr lieben, als du es getan hast, während ich an deiner Seite lebte.“ Ihr Oberkörper sackte zurück in die schweißnassen und blutverschmierten Laken und Cassandra starb. Noch heute kann ich ihre letzten Worte hören, ich schrieb sie den Schmerzen der Geburt zu, doch heute weiß ich, dass sie die Worte lange und mit Bedacht schon zuvor geplant hatte. Es war ein Fluch, er brachte ihr den Tod und leitete meinen ebenso ein wie den meiner kleinen Tochter.
Nach ihrem Tod änderte sich nichts in meinem Leben. Ich mied ebenso die Öffentlichkeit, lebte nur für mich und mit meiner namenlosen Tochter allein. Sie war namenlos, zwar musste ich auf dem Standesamt einen Namen angeben, aber das konnte ich nicht. Eine Stimme in meinem Kopf, ihre Stimme, flüsterte mir immer wieder zu „Taufe sie Cassandra, nach ihrer Mutter“, doch ein letztes Mal konnte ich widerstehen, nein, so sollte das kleine Ding nicht heißen. Ich nannte einen Namen, aber ich hatte ihn in dem Moment vergessen, in dem er zu Ende ausgesprochen war. Wenn ich angestrengt darüber nachdenke, war es wahrscheinlich der Name meiner Mutter, aber ich könnte es nicht beschwören. Vielleicht sollte man auf dem Standesamt nachfragen, auf deutschen Ämtern wird ja nie etwas verloren. Ich schloss mich also weiter in der Wohnung ein, ganz allein mit dem namenlosen kleinen Engel. Ich ersetzte ihr die Mutter und versuchte ein Vater zu sein. Jahre vergingen, ohne einen menschlichen Kontakt zur Außenwelt. Das Mädchen sah nie in ihrem Leben einen Menschen, wenn denn einmal einer an der Wohnungstür war – der Postbote oder sonst jemand – schloss ich sie in ihrem Zimmer ein. Nur Bücher, die Bücher ihrer Mutter, oder das Internet verriet ihr, dass es dort draußen Menschen gab. Sie war ein ausgesprochen kluges Kind, schon mit vier Jahren konnte sie lesen und schreiben. Ich hatte keine Mühe es ihr beizubringen. Alles was sie wollte, das bekam sie auch. Ihr Zimmer platzte voller Spielzeug aus allen Nähten. Jedes Mal wenn sie nur die Augen so verdrehte, als würde sie etwas haben wollen, bekam sie es. Ich verbrachte fast 24 Stunden des Tages bei ihr, wir spielten und bald lasen wir zusammen. Ihre Stimme hatte den tiefen Klang ihrer Mutter. Wie sie überhaupt ihrer Mutter bis aufs letzte Haar glich. Fast schon wie ein Verzweifelter suchte ich an ihr nach etwas anderem, als der unglaublichen Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Doch weder im Aussehen, noch in ihrem Wesen hatte sie irgendetwas von mir mit in die Wiege gelegt bekommen. Sie wie war wie ein Klon ihrer Mutter und ich begann zu zweifeln, ob ich zu ihrem Entstehen überhaupt etwas beigetragen hatte. Ich entwickelte die irrsinnigsten Ideen, die es heute den Ärzten einfach machen mich für geisteskrank zu erklären. Ich glaubte sogar, dass Cassandra selbst so entstanden war. Ihre Mutter hatte sich ebenfalls einen Mann geholt, mit ihm gelebt, ein Kind geboren und war gestorben. Der Vater erzog das Kind, das Kind verließ niemals diese Wohnung. In dem Moment, in dem ich diese Theorie entwickelte, war sie für mich die Wahrheit. Nichts konnte mich davon abbringen, kein noch so treffend-logischer Einwand hätte mich eines Besseren überzeugen können. Dieses Haus war keine 50 Jahre alt, na und, vielleicht hatte irgendeine Frau dieser satanischen Sippe für einen kurzen Moment den Kontakt zur Außenwelt gehabt. Nein, sicher, so musste es sein und es war meine Aufgabe die Tradition dieser Familie fortzusetzen.
Jahre vergingen, ich wusste nicht wie viele. Ich konnte nur sehen wie das Mädchen wuchs, und daran versuchte ich einzuschätzen wie viele Jahre seit der Geburt vergangen waren. Nie nannte ich sie bei einem Namen, ich half mir mit „Liebling“ oder sonst irgendwelchen Kosenamen aus. Nur ein einziges Mal nannte ich sie bei ihrem Namen. Sie musste damals schon sechs oder sieben gewesen sein und ich bereute meinen einzigen Fehler, der Außenwelt von ihr erzählt zu haben. Das Schulamt fragte bei mir an, wann ich denn die Kleine einschulen wollte. Ich zerriss die Briefe in der Hoffnung sie damit gegenstandslos werden zu lassen. Doch es kamen immer mehr, immer deutlicher und schließlich drohte man mir damit die Polizei würde das Kind holen. Und das tat sie auch, es klingelte an der Tür und als ich einen Blick durch den Türspion warf, konnte ich die Polizisten in Begleitung einer Frau vom Schulamt sehen. Panik ergriff mich, sie waren gekommen mir mein Leben wegzunehmen. Denn längst war mein kleines Mädchen alles, warum ich nicht sterben wollte. Ohne sie, wäre ich längst vor mich dahinvegetiert, bevor der Tod mich endlich erreichen würde. Jetzt wollten sie mir sie wegnehmen, das konnte ich nicht zu lassen. Das Läuten wurde durch ein Hämmern abgelöst, einer der Polizisten schrie etwas, aber ich konnte nicht verstehen was. Jemand machte sich schon am Schloss zu schaffen. Meine Panik wuchs, ich musste etwas tun.
Ich tötete sie. Ich drückte ihr ein Kissen ins Gesicht, so fest ich konnte, doch ihre Augen sahen hervor. Nein, es waren nicht ihre Augen, es waren die Augen ihrer Mutter. Starr blickte sie mich an, während der kleine Körper zappelte und schließlich im Todeskampf verlor. Ich hielt das Kissen noch immer in der Hand, als die Polizisten hereinstürmten und mich wegzerrten. Nichts anderes kam über meine Lippen als „Cassandra“, immer wieder sprach ich diesen Namen aus und ich habe seitdem kein anderes Wort mehr sprechen können. Sie war es, sie hatte ihren eigenen Tod überlebt, sie hatte in dem Kind weitergelebt, so wie ihre eigene Mutter in ihr. Und die Ärzte glauben noch immer, ich sei wahnsinnig.


